Münchner Behindertenbeauftragte zur Situation von Menschen mit Behinderung

Eine Frau mit langen Haaren sitzt am Schreibtisch. Mit der einen Hand hält sie einen Telefonhörer ans Ohr. Mit der anderen Hand hält sie einen Bleistift. Sie schaut lächelnd auf einen PC-Bildschirm.
Daniela Maier, ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Landeshauptstadt München.
Foto: S. Hoefer/LHM

Frau Maier, heute ist der Europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Sind denn Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft immer noch so stark benachteiligt, dass man dafür auf die Straße gehen muss?
Daniela Maier: Ich denke, zum aktuellen Zeitpunkt ist es so wichtig wie schon lange nicht mehr, dass Menschen mit Behinderungen auf sich und ihre Forderungen aufmerksam machen. Trotz der Ratifizierung Deutschlands der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 sind wir noch weit davon entfernt, in allen Lebensbereichen gleichberechtigte Teilhabe zu erfahren. 

Woran oder auf welchen Gebieten hapert es Ihrer Ansicht nach am meisten?
Daniela Maier: Das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen muss endlich reformiert werden. Es müssen Wege gefunden werden, Menschen mit Behinderungen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber möglichst unbürokratisch zusammen zu bringen, damit mehr Menschen mit Behinderungen eine Chance haben, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt auszuprobieren.
Zudem ist das Thema Schule und Ausbildung sehr wichtig, da Bildung häufig der Grundstein dafür ist, dass es für Menschen mit Behinderungen möglich ist, aus separierenden Strukturen auszubrechen.
Auch beim Thema barrierefreier Wohnraum hapert es. Gerade bei uns in München ist der Wohnraum sowieso schon knapp. Hier dürfen wir ebenfalls keine Rückschritte in Kauf nehmen.
Und die Privatwirtschaft muss endlich zur Barrierefreiheit gesetzlich verpflichtet werden.

Sind Sie mit dem Koalitionsvertrag der künftigen Regierung in Hinsicht auf das Thema „Behinderung“ zufrieden?
Daniela Maier: Der Koalitionsvertrag ist erstmal eine reine Absichtserklärung und über allem steht der Finanzierungsvorbehalt. Die Formulierungen sind vage und es fehlen konkrete Maßnahmen und Fristen. Daher bin ich skeptisch, was davon wirklich umgesetzt werden wird. Beim Koalitionsvertrag der Ampelregierung war ein Großteil unserer Community hoffnungsvoll, dass es für uns große Verbesserungen geben wird. Stattdessen warten wir bis heute auf die Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG).

Wie sehen Sie die Situation für Münchner Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen? Was läuft in München schon gut und was würden Sie sich für unsere Stadt in Zukunft wünschen?
Daniela Maier: Wenn man zurückblickt, ist in München für und mit Menschen mit Behinderungen durchaus einiges verwirklicht worden. Dies ist unter anderem den Maßnahmen der drei Münchner Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK, dem Behindertenbeirat mit seinen Facharbeitskreisen sowie weiteren Unterstützerinnen und Unterstützern unserer Community zu verdanken.
In der Stadtverwaltung wird zum Beispiel durch verschiedene Schulungen versucht, den Umgang mit Kolleginnen und Kollegen sowie mit Klientinnen und Klienten mit Behinderungen zu verbessern. Erst vor wenigen Tagen gab es für die städtischen Beschäftigten eine Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Ableismus“. Über Ableismus aufzuklären, ist mir persönlich ein Herzensanliegen. Diese Diskriminierungsform mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen ist noch viel zu wenig bekannt.
Allerdings gibt es auch einige Themen, bei denen sich trotz Bemühungen keine oder nur kleine Fortschritte zeigen, obwohl sie extrem wichtig wären, um die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Denn auch wir Münchnerinnen und Münchner mit Behinderungen haben ein Recht darauf, das Münchner Lebensgefühl für uns vollumfänglich zu beanspruchen.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass es meine Community der Menschen mit Behinderungen schafft, sich für die kommenden Herausforderungen untereinander zu stärken. Ich finde es wichtig, dass wir uns mit anderen marginalisierten Gruppen und Allys aus der Münchner Stadtgesellschaft, Stadtverwaltung und Stadtpolitik verbinden. Wir müssen zusammen gegen die aktuelle politische Entwicklung und die damit drohenden Rückschritte ankämpfen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Aktionen und Demonstrationen zum 5. Mai in der gesamten Gesellschaft ankommen? Und falls nicht, was kann man tun, damit sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger mit den Themen „Behinderung“, „Teilhabe“ und „Inklusion“ beschäftigen?
Daniela Maier: Bei Aktionen und Demos, die den Schwerpunkt Inklusion haben, trifft man tatsächlich meistens selbst Betroffene oder deren Angehörige. Nicht betroffene Menschen sehe ich eher selten auf solchen Veranstaltungen.
Die meisten Menschen erwerben ihre Behinderungen erst im Laufe ihres Lebens. Dieses Thema wird in unserer Leistungsgesellschaft sehr defizitär betrachtet. Damit gehen oft auch Berührungsängste einher. Deshalb beschäftigen sich viele erst damit, wenn sie selbst oder Angehörige von Behinderung betroffen sind. Ich kann das sehr gut verstehen, da ich mich auch erst mit diesem Thema auseinandergesetzt habe, als ich mit 30 Jahren meine Schwerbehinderung erworben habe.
Mir ist es ein Anliegen, dass wir es schaffen, dass das Thema „Behinderung“ durch Bewusstseinsbildung und Begegnungen nicht nur defizitär betrachtet wird. Wir sind eine starke und vielfältige Community. Darauf können wir stolz sein.
Barrierefreiheit und Inklusion dürfen nicht als „lästiges Übel“ betrachtet werden. Barrierefreiheit und Inklusion kommt uns allen zugute. Beides ist ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft und ein Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie.

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Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-BRK